Vergebung und Entschuldigung sind Kategorien, die ursprünglich auf der Mikroebene, in deren Rahmen Einzelne als Hauptakteure handeln, etabliert sind. Diesen Akteuren lassen sich aufgrund eines Fehlverhaltens bestimmte Rollen – Opfer und Täter – zuweisen. Ausgehend von dieser Rollenzuweisung bildet sich ein ideales Muster von Vergebung und Entschuldigung: Ein Opfer vergibt einem Täter; ein Täter entschuldigt sich bei einem Opfer. Wie ist mit diesen ursprünglich individuellen Kategorien auf der Makroebene, auf der politische Entitäten und Kollektive als Hauptakteure anzusehen sind, zu operieren?
In dieser Hinsicht wurde die vorliegende Untersuchung im Rahmen von transitional justice durchgeführt. Dabei handelt es sich um ein Forschungsfeld, das Anfang der 1990er Jahre in die akademische Debatte um Modelle der Vergangenheitsaufarbeitung und Friedenskonsolidierung in den Staaten und Gesellschaften nach Systemwechseln und Gewaltkonflikten eintrat. Seit ihrer Etablierung befindet sich transitional justice in einem ständigen Entwicklungsprozess, hat ein breites Bündel von Zielen, die sich sowohl auf die Mikro- als auch auf die Makroebene beziehen, und setzt in der Praxis vielfältige Instrumente ein, um diese Ziele zu erreichen.
Inwiefern Vergebung und Entschuldigung hilfreiche Konzepte in solchen politischen Prozessen sein können, ist eine zentrale Frage dieses Buches.
Pavle Anicic, geboren 1982; 2001–2007 Studium der Orthodoxen Theologie in Belgrad; 2013 Spezialisation an den Politikwissenschaften in Belgrad; 2017 Promotion an der Katholisch-Theologischen Fakultät der WWU Münster.