Die 1938 erschienene Odissia des Nikos Kazantzakis ist thematisch eine Fortschreibung der homerischen Odyssee. Dem nach Ithaka zurückgekehrten Odysseus erscheinen die Heimatinsel zu klein und ihre Bewohner zu engstirnig, um seinem Bedürfnis nach Selbst-entfaltung und Grenzüberschreitung gerecht zu werden. Daher schart er neue Gefährten um sich und bricht zu einer weiteren abenteuerlichen Reise auf, die ihn über Sparta, Kreta und Ägypten bis nach Zentralafrika führt. Schließlich gelangt er zum Südpol, wo er in dem Glauben, seine absolute Freiheit erlangt zu haben, stirbt.
Kazantzakis erhebt in der Odissia den Anspruch, eine moderne Theorie über den Menschen und die Welt zu entwerfen. Durch seinen thematischen Ansatz, seine formale Gestalt und das Auftreten zahlreicher mythischer Personen schließt sich das Werk unmittelbar der homerischen Odyssee an. Diesen in der Forschung weitgehend vernachlässigten intertextuellen Bezügen wendet sich die vorliegende Arbeit zu. Vor der werkimmanenten Interpretation werden die Person und das Werk des Dichters, sowie die Ent-stehungsgeschichte der Odissia beleuchtet. Da die Handlung des modernen Epos nicht erst nach dem Ende der homerischen Odyssee, sondern bereits vor der Rückgewinnung der Herrschaft und vor der Wiedervereinigung mit Penelope einsetzt, ergeben sich thematisch-motivische Überschneidungen, deren Interpretation im Zentrum der Untersuchung steht. Abschließend wird die Charak-terisierung des Odysseus bei Homer und Kazantzakis miteinander verglichen.
Die Untersuchung läßt erkennen, daß der moderne Dichter in größerem Maße als bisher vermutet bei der Abfassung seines Hauptwerks von dem antiken Epos beeinflußt worden ist.