Aischylos' Tragödie. Die Hiketiden („Die Schutzflehenden”) behandelt die Weigerung der Töchter des Danaos, ihre Cousins, die Söhne des Aigyptos, zu heiraten. Die Flucht vor dieser Ehe führt sie von Ägypten ins griechische Argos, wo sie am Altar der zwölf olympischen
Götter eine Asylbitte an König Pelasgos richten. Hierzu vollziehen sie das in der antiken Welt verbreitete Ritual der Hikesie, bei dem der Asylsuchende durch bestimmte Gesten und Redeformeln sowie durch die Berufung auf Zeus Hikesios, den Patron der Schutzflehenden,
seine Aufnahme zu erzwingen sucht. Schutzflehende galten in der griechischen Welt als heilig, und daher bedeutet ihre Zurückweisung
beziehungsweise Verletzung ein Sakrileg, das göttliche Strafe nach sich zieht. Die Darstellung dieses Konflikts in Aischylos' Hiketiden nimmt Bezug auf Momente des antiken griechischen Hochzeitsrituals. Begibt der Schutzflehende sich gefahrvoll in einen heiligen Raum zwischen
Leben und Tod, so markiert der symbolische Tod der Braut beim Hochzeitsritual das Ende der Jungfräulichkeit, auf das der neue Status
als Ehefrau gleich einer Wiedergeburt folgt. ln der poetischen Konstruktion des Aischylos werden beide ,rites de passage’ miteinander analogisiert. Die in beiden Ritualen vollzogene Grenzüberschreitung findet zudem ein Pendant in der Sprache der Danaiden, in ihren Liedern. Hybridität, Transgression und Verletzung der Norm kennzeichnen das Sprechen der Protagonistinnen. Die vorliegende Arbeit zeigt, wie Aischylos sowohl gestische als auch sprachliche Sequenzen von Ritualen in Bausteine der dramatischen Poiesis überführt – ein Verfahren, das sich als ,Rhetorik des Rituals’ bestimmen läßt.