Rosanow (1856-1919) war ein konservativer russischer Philosoph, einflussreicher Journalist und innovativer Schriftsteller. Er wird unscharf ‚russischer Nietzsche‘ und ‚russischer Freud’ genannt, weil er die Orthodoxe Kirche radikaler Kritik unterzog und Fürsprache für die Lebenslust hielt. Gestützt zunächst auf den Judaismus, später auf die altägyptische Kultur, hat er eine persönliche Religion entworfen, die den Menschen auf Augenhöhe mit Gott stellt. Quer dazu steht sein zeitweiliger, hier kritisch beleuchteter Antisemitismus. Viele seiner der Zeit weit vorauseilenden Gedanken zur Poetik des Lebens, zur Bedeutung von Gefühl und Zärtlichkeit im Zusammenleben der Menschen, zur Nähe von Mensch und Tier, zur Bedeutung des nordöstlichen Afrika (Ägypten) für die europäischen Kulturen, verdienen in der Mitte Europas auch gegenwärtig Beachtung.
Da Rosanow in verschiedenen Berufen tätig war (als Lehrer, Beamter im Reichskontrollamt, Zeitungsredakteur), bietet die Biographie vielfältigen Einblick in die russische Kultur von 1860 bis 1920. Im Kern enthält sie auch eine russische Kulturgeschichte dieser Zeit, die dem Bild der russischen Geschichte im ‚mainstream‘ eine Alternative entgegenhält: Im Sinne einer konservativen Moderne scheint am Beispiel Rosanows auch eine andere als die totalitäre Variante Russlands mit Lenin und Stalin möglich.
Bis zur Oktoberrevolution sehr einflussreich, in der Sowjetunion verfemt, ist Rosanow seit Glasnost und Perestroika im heutigen Russland ein wirkmächtiger Autor. Insbesondere steht er als Verfechter des Andersdenkens dem gegenwärtigen autoritären Putinismus schroff gegenüber.
Über den Autor
Prof. Dr. Rainer Georg Grübel, Studium der Slawistik, Germanistik und Philosophie in Göttingen, Frankfurt (M.) und Leningrad, Professuren in Utrecht, Leiden und Oldenburg; Publikationen zu Literaturtheorie, Literaturgeschichte und Philosophie.
Pressestimmen
Pressestimmen:
„Der Oldenburger Slawist Rainer Georg Grübel legt zu Rosanows hundertstem Todestag eine monumentale Biografie in zwei Bänden vor. In diesem umfassenden Projekt leuchtet er nicht nur Rosanows Leben in all seinen interessanten und problematischen Facetten aus, sondern er schreibt auch eine Kulturgeschichte des späten Zarenreichs. Rosanows Wortmeldungen werden durch zahlreiche Exkurse etwa zum Rauchen, zum Eisenbahnbau oder zur Medizingeschichte erklärt. Grübel stellt die überzeugende Vermutung auf, Rosanow habe an einem ADHS-Syndrom gelitten. In seiner Essayistik ist es Rosanow jedenfalls gelungen, seinem sprunghaften und impressionistischen Denken einen exquisiten literarischen Ausdruck zu verleihen.“
Ulrich M. Schmid in Neue Zürcher Zeitung, 31.10.2019