Der Gottesdienst der Kirche war immer auf unterschiedliche Weise mit dem all- und sonntäglichen Leben der Menschen verbunden. Dies galt zunächst vor allem für jene Epochen und Regionen, in denen Kirche und Gesellschaft engstens miteinander verflochten waren. Wie aber gestaltete sich das Verhältnis zwischen Liturgie und Lebenswelt in den zahlreichen Wandlungs- und Veränderungsprozessen in der Zeit zwischen dem Konzil von Trient (1545–1563) und dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965)? Wie haben Kriegzeiten, radikal veränderte Lebensverhältnisse, umwälzende geistige Strömungen und politische und gesellschaftliche Umbrüche das gottesdienstliche Leben berührt, und wie reagierte umgekehrt die religiöse Praxis auf diese massiven Umbrüche? Blieben sie sich fremd?
Der vorliegende Sammelband will einen ersten Zugang zu diesen Fragen bieten und zum interdisziplinären Austausch zwischen der Liturgiewissenschaft und der historischen Theologie, aber auch der Geschichtswissenschaft und den Kulturwissenschaften insgesamt beitragen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen gehen in 29 Beiträgen den sozialen und politischen Voraussetzungen, den kulturellen und mentalitätsgeschichtlichen Bedingungen von Liturgie und Frömmigkeit im neuzeitlichen Westeuropa nach und erläutern, wie Gottesdienst und Brauchtum ihrerseits Einstellungen, Lebensverhältnisse und das Denken und das Handeln der Menschen beeinflussten. Soldaten im Dreißigjährigen Krieg wie im I. Weltkrieg, die Welt der Industrie, Jubiläen und Weihnachtsmärkte, die Bewältigung von Katastrophen und Krisensituationen treten ins Blickfeld, aber auch die Seelsorge am Lebensende und die Frömmigkeit im Angesicht von Sterben und Tod. Die weite Welt des "gelebten Glaubens" wird zur Sprache gebracht. Die Autorinnen und Autoren geben einen guten Einblick in die gegenwärtige Erforschung der durch Gottesdienst und Frömmigkeit weithin mitbestimmten Lebenswelt und -praxis in der Neuzeit. Der historisch-kritische Blick in die Vergangenheit schärft die Wahrnehmung des gegenwärtigen Zustands und zeigt Perspektiven für die Weiterentwicklung des gottesdienstlichen Lebens auf.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
S. VII–IX
Abkürzungsverzeichnis
S. 1–4
Bernhard Schneider
Liturgie und Lebenswelt. Einleitende Überlegungen des Kirchenhistorikers zu einem interdisziplinären Forschungsfeld
S. 5–16
I. Grundlagen
Andreas Redtenbacher
Zur Entwicklung des Liturgiebegriffs vom Tridentinum bis zum Vorabend der Liturgischen Bewegung
S. 17–32
Kai Gallus Sander
Lex orandi – lex credendi? Systematische Reflexion auf unterschiedliche theologische Verhältnisbestimmungen von Liturgie, Glaube und Leben
S. 33–46
Michael Kunzler
Bleibt die Liturgie? Erneute Anfrage auf der Suche nach einem tragfähigen Kultbegriff
S. 47–72
II. Felder und Räume des Lebens
Jean Malget
Pacificus a Cruce Carmelita Arlunensis. Sein Predigtwerk, eine Quelle für die Volkskunde der Bruderschaften im westlichen Teil des alten Erzbistums Trier
S. 73–92
Philippe Martin
Thomas Le Blanc: une volonté de spiritualiser le soldat
S. 93–104
Benedikt Kranemann
„Baue auch du ... deiner Seele Unterstand bei ihm”. Kriegsdeutung durch Liturgie am Beispiel von Feldpredigten des Ersten Weltkriegs
S. 105–120
Alexander Saberschinsky
‚Staatsgottesdienste’ – staatliches Gedenken oder Feier des Glaubens? Ein Grenzgang zwischen Sozialethik und Liturgiewissenschaft
S. 121–140
Bernhard Schneider
„Ora et labora”. Der Umbruch der Arbeitswelt und die Liturgie im langen 19. Jahrhundert
S. 141–184
Heinrich Weyers
„Das Christkind lädt zu seinem Markte ein ...” Der Weihnachtsmarkt – ein Festraum an der Grenze von Liturgie und Lebenswelt
S. 185–204
III. Wenden des Lebens
Klaus Peter Dannecker
Die Segnung der Mutter nach der Geburt in der ehemaligen Diözese Konstanz
S. 205–226
Reinhold Malcherek
„Der kleine Kommunikant bei der Kommunionmesse”. Zur Beziehung zwischen der Liturgie der Erstkommunion und den Kindern als Teilnehmern im Spiegel von Artikeln der „Katechetischen Blätter” vom Dekret „Quam singulari” bis zum II. Vatikanischen Konzil
S. 227–242
Jürgen Bärsch
„Fünfzig Jahre sind verflossen...” Die Liturgie der Ehejubiläen in den Diözesanritualien des deutschen Sprachgebietes
S. 243–280
Winfried Haunerland
Missa aurea oder Sekundiz. Spurensuche zur liturgischen Feier des Priesterjubiläums
S. 281–298
Werner Müller-Geib
Das Menschenbild liturgischer Texte in ausgewählten Ritualien des 20. Jahrhunderts
S. 299–314
IV. Krisen und Grenzen des Lebens
Manfred Probst SAC
Exorzismushandlungen bei Maximilian von Eynatten (1574/75–1631) im Kontext der damaligen Lebenswelt
S. 315–328
Franz Kohlschein
Extrem-Seelsorge: Priester bei der öffentlichen Hinrichtung. Die geistliche Begleitung der zum Tod Verurteilten im Bamberger Rituale von 1724
S. 329–350
Martin Persch
Pest und Cholera im entfernteren Umkreis der Liturgie
S. 351–358
Maria Kohle
Mahnung und Trost im Angesicht des Todes. Die Endzeit-Lieder im Paderborner Gesangbuch 1609
S. 359–372
Michael Fischer
Gelungene oder misslungene Anpassung an die Lebenswelt? Sterbe- und Begräbnislieder in Mainzer Diözesangesangbüchern 1787 bis 1865
S. 373–390
August Jilek
Liturgie anlässlich von Tod und Begräbnis. Beobachtungen und Vorschläge
S. 391–414
V. Mittel des Lebens
Bruno Bürki
Abend- und Morgengebet in der evangelischen Lebenswelt von Neuchâtel (seit dem 18. Jahrhundert)
S. 415–426
Albert Gerhards
Nachklang des Zukünftigen. Zur historischen Erforschung und liturgie-theologischen Bestimmung katholischer Kirchenmusik am Beispiel Wolfgang Amadeus Mozart
S. 427–438
Reiner Kaczynski
Privatfrömmigkeit als Quelle für das liturgische Leben. Ein handgeschriebenes Gebetbuch aus dem 18./19. Jahrhundert
S. 439–456
Martin Klöckener
Die Manuale-Ausgaben der Diözese Lausanne-Genf (-Freiburg) im 19. und 20. Jahrhundert. Ritualeersatz und Gebetbuch an der Nahtstelle von Liturgie und Lebenswelt
S. 457–490
Barbara Stambolis
‚Die Reihen ... fest geschlossen in hohem Glaubensmut’. Zur Rolle von Kirchenliedern unter den Bedingungen des Dritten Reiches und im Zweiten Weltkrieg
S. 491–518
VI. Perspektiven
Frieder Schulz ✝
Zur rituellen Verarbeitung spezieller Lebenssituationen. Segnungen als neues Thema in der evangelischen Kirche
S. 519–530
Karl Schlemmer
Gottesdienst feiern in einer postmodernen säkularisierten Gesellschaft
S. 531–542
Jürgen Bärsch
Liturgie und Lebenswelt. Rückblickende Überlegungen und perspektivische Gedanken des Liturgiewissenschaftlers zu einem interdisziplinären Forschungsfeld
S. 543–554
Register
S. 555–580
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
S. 581–582