Der Tübinger Tagungsband thematisiert am Ende der „Luther-Dekade“ 2007–2017 die internationale Wirkungsgeschichte der Wittenberger Reformation im historischen Ungarn und Siebenbürgen und deren geistes-, sozial- und kulturgeschichtliche Folgen. Das dortige Luthertum weist Spezifika auf, deren Besonderheit der interdisziplinäre Vergleich offenlegt. So war die lutherische Reformation in Ungarn und Siebenbürgen stark durch den Humanismus und das Denken Melanchthons beeinflusst – ganz ähnlich wie das landestypische Reformiertentum. Die lutherische Reformation verbreitete sich gleichermaßen unter Deutschen, Slowaken, Slowenen und Magyaren, teilweise auch unter den Kroaten. Die vier lutherischen Sprachgruppen lebten bis 1918 in friedlicher Koexistenz und bereicherten einander durch die wechselseitige Übernahme etwa von Übersetzungen oder Kirchenliedern. Sprache und Konfession waren im historischen Ungarn nicht deckungsgleich: So entwickelten sich neben der Ausdifferenzierung der einzelnen Konfessionen zeitweise auch innerhalb der einzelnen lutherischen Sprachgruppen konkurrierende Identitäten bzw. politische Auffassungen über Staat und Nation. In der slowakischen Nationsbildung im 19. Jahrhundert konnte die lutherische Bildungselite eine ähnlich große Rolle spielen wie die reformierte während des ungarischen Nations- und Staatsbildungsprozesses. Das Luthertum in Ungarn und Siebenbürgen war zudem von Anfang an integral in einen Kommunikationsraum des internationalen Luthertums eingebunden, der sich durch die Migration von Menschen und den Transfer von Ideen auszeichnete.
Über den Autor
Márta Fata, apl. Prof. Dr. phil. habil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen, außerplanmäßige Professorin am Seminar für Neuere Geschichte, Philosophische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen
Anton Schindling, Prof. em. Dr. phil. habil., bis 2015 ordentlicher Professor für mittlere und neuere Geschichte am Seminar für Neuere Geschichte, Philosophische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen, seitdem ebd. Seniorprofessor mit Schwerpunkt auf ostmitteleuropäischer Geschichte
Inhaltsverzeichnis
Márta Fata / Anton Schindling
Luther und die Evangelisch-Lutherischen in Ungarn und Siebenbürgen vom 16. Jahrhundert bis 1918
S. 11–32
Reformation, Konfessionsbildung und Kirchenverfassung
Volker Leppin
Die Formierung des siebenbürgischen Luthertums zwischen Wittenberg, Zürich und Genf
S. 33–56
Edit Szegedi
Von der reformatorischen Gemeinde zur Kirche Wittenberger Prägung. Die Durchsetzung des orthodoxen Luthertums in Siebenbürgen (um 1550–1650)
S. 57–90
Ulrich A. Wien
Politik – Macht – Glaube. Kontroversen, Konflikte und Konsensbemühungen in Siebenbürgen zwischen Landeskirche und Nationsuniversität von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts
S. 91–110
Rudolf Leeb
Die lutherische Reformation in der westungarischen Grenzregion
S. 111–140
Márta Fata
Wo das Evangelium nicht gehet, da ist keine Kirche. Ursachen, Verlauf und Folgen der Binnenwanderung deutsch-lutherischer Siedler in der Batschka und in Syrmien im 19. Jahrhundert
S. 141–194
Karte 1: Die Evangelisch-Lutherischen in Ungarn anhand der Volkszählung von 1900
S. 195–196
Karte 2–3: Die evangelisch-lutherische Kirchenverwaltung vor 1894 und zwischen 1894 und 1918
S. 197–200
Bildung und Gelehrsamkeit
István Monok
Luthers und Melanchthons Werke in ungarländischen Bibliotheken des 16. und 17. Jahrhunderts
S. 201–222
Reinhard H. Seitz
Zur Rolle der Stadt Lauingen und des Fürstentums (Pfalz-)Neuburg bei der Gründung der evangelischen Kirchengemeinde in Pressburg 1606–1608
S. 223–242
Péter Kónya
Das evangelisch-lutherische Kollegium zu Eperies 1667–1920. Die Entwicklung der zentralen Schule der Lutheraner im Königreich Ungarn zwischen Religion und Politik, Stadt- und Staatsgeschichte
S. 243–276
Eva Kowalská / Markus Gerstmeier
Evangelische Exulanten aus dem Königreich Ungarn und der frühe Pietismus. Migration, Krisenbewältigung und religiöser Wissenstransfer zwischen ungarischen und deutschen Zentren des Luthertums im 17. Jahrhundert
S. 277–318
László Szelestei Nagy
Erneuerer versus Traditionalisten? Ungarländische Schüler von August Hermann Francke als Vermittler pietistischer Impulse im Königreich Ungarn
S. 319–342
Judit Bogár
Evangelisch-lutherische Gelehrsamkeit in Oberungarn im 17. und 18. Jahrhundert. Eine bildungs- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung Georg Buchholtz' des Jüngeren (1688–1733)
S. 343–376
Sprache, Konfession und Nationsbildung
Zoltán Csepregi
Ethnische versus konfessionelle Identitätsbildung im Königreich Ungarn von der Reformation bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Überlegungen zur Mehrsprachigkeit, muttersprachlichen Identität und Übersetzungspraxis
S. 377–406
France M. Dolinar
Konfession und Sprache bei den Slowenen im Übermurgebiet von der Reformation bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
S. 407–429
Das Toleranzpatent Kaiser Josephs II. von 1781
Karte 4: Neu gegründete evangelisch-lutherische Kirchengemeinden zwischen 1781 und 1848
S. 430–434
Abbildungsteil
S. 435–438
Mátyás Kéthelyi
Die dreisprachige evangelisch-lutherische Kirchengemeinde in der Stadt Ofen-Pest zwischen 1787 und 1833/34
S. 439–476
Peter Šoltés
Die Rolle der evangelisch-lutherischen Konfession im sprachlichen und nationalen Gruppenbildungsprozess der Slowaken in der ersten Hälfte des „langen“ 19. Jahrhunderts
S. 477–498
Tibor Pichler
Nation und Modernisierung im Diskurs slowakischer Lutheraner im Vormärz
S. 499–518
Botond Kertész
Der Begriff der ‚Freiheit‘ bei evangelisch-lutherischen Publizisten der ungarischen Reformzeit und der Revolution 1848/49
S. 519–548
Krista Zach ✝
Die ‚Volkskirche‘ der Siebenbürger Sachsen im 19. Jahrhundert und am Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Entstehung eines Mythos'
S. 549–576
Erscheinungsformen des kirchlichen Lebens
Gyula Pápay
Jakob Lucius der Ältere (um 1530–1597). Ein evangelisch-lutherischer Drucker, Formschneider und Zeichner aus Siebenbürgen
S. 577–586
Márta Fata
Artikular-, Hecken- und Toleranzkirchen der Lutheraner. Phänomene des evangelischen (protestantischen) Kirchenbaus im Königreich Ungarn vom 17. Jahrhundert bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts
S. 587–610
Béla László Harmati
Kanzelaltäre und Emporenbilder in evangelisch-lutherischen Kirchen in Transdanubien (Ungarn)
S. 611–616
Evangelisch-lutherische Kirchen und Kanzelaltäre. Abbildungsteil
S. 617–644
Gabriella H. Hubert
Ungarischsprachige lutherische Gesangbücher der Frühen Neuzeit. Entstehung, Verbreitung und Verflechtungen mit den Gesangbüchern der ungarischen Reformierten und der anderssprachigen Lutheraner im Königreich Ungarn
S. 645–668
Timea Benkő
Der Versuch einer Vereinheitlichung des lutherischen Gottesdienstes in der Habsburgermonarchie unter Joseph II. Der Pressburger Agendenentwurf von 1784 im Königreich Ungarn
S. 669–692
Julia Krämer-Riedel
Palatinessa Maria Dorothea von Württemberg (1797–1855) als Mitbegründerin der ungarischen Sozialfürsorge
S. 693–720
Luther-Reliquien, Reformationsjubiläen und -darstellungen
Miklós Czenthe / Márta Fata
Die Überlieferung des Vermächtnisses von Martin Luther in Ungarn. Zum handschriftlichen Testament des Reformators von 1542 im Budapester Evangelischen Landesarchiv
S. 721–736
Abbildungsteil mit Beiträgen von Márta Fata, Béla László Harmati, Emese Tömösvári und Ágnes Ziegler
S. 737–762
Luther und die Evangelisch-Lutherischen im Donau- und Karpatenraum
Karl W. Schwarz
Solidarität und Einheit der Protestanten? Integration und Kooperation in den protestantischen Kirchen im Donau- und Karpatenraum – einst und heute
S. 763–788
Anhang
Ortsnamenverzeichnis
S. 789–800
Personenverzeichnis
S. 801–814
Verzeichnis der Abbildungen und Karten
S. 815–816
Autorenverzeichnis
S. 817–820