Wer nach Ende des zweiten Weltkrieges im öffentlichen Dienst oder in leitenden Stellungen tätig werden wollte, musste sich entnazifizieren lassen. Für Münster ist dieser Prozess bisher wenig untersucht. In einer detailreichen Studie nimmt Autor Philipp Erdmann nun lokale Entwicklungen und Eigenheiten wie einen „Entnazifizierungsskandal“ in den Blick. Ausgewählte Einzelfälle zeigen die vielfältigen Interaktionen zwischen Belasteten, den „Entnazifizierern“ in Ausschüssen, Interessenverbänden, der katholischen Kirche und den Behörden. Dabei wird deutlich, dass die Entnazifizierung kein isoliertes Verfahren war, sondern in Zeitungen und Netzwerken oder der Wiederannäherung an die Kirchen ausführlich verhandelt wurde.
Interpretationsspielräume ermöglichten dabei regelrechte „Entnazifizierungskarrieren“: Die Selbstinszenierung angeblicher innerer Abkehr vom Nationalsozialismus oder gezielte Verzögerungstaktiken wirkten sich positiv für die Betroffenen aus. Aber auch die öffentliche Diffamierung der Ausschussmitglieder war eine effektive Strategie, um dem „Instanzenlabyrinth“ weitgehend unbeschadet zu entkommen. Wie sich im Lauf der Jahre solche Vermeidungs- und Ablenkungsstrategien wandelten, zeichnet der Autor detailliert nach. Wie kam es dazu, dass die immer unverhohlener geäußerte Kritik an den Entnazifizierungen schließlich gerade denen nützte, deren milde Beurteilungen Anlass zur Kritik gaben? Die dieser Studie zugrundeliegende Abschlussarbeit zeichnete die Stadt Münster 2017 mit dem erstmals vergebenen Nachwuchspreis für junge Historikerinnen und Historiker aus.
Über den Autor
Philipp Erdmann hat in Münster und Sevilla Geschichte, Ökonomik und Kultur- und Sozialanthropologie studiert. Seine Abschlussarbeit zeichnete die Stadt Münster mit dem erstmals vergebenen Förderpreis für junge Historikerinnen und Historiker aus. Als Doktorand war er von 2014 bis 2017 am Historischen Seminar der Universität Münster im Projekt „Geschichte der Stadtverwaltung Münster 1920-1960“ beschäftigt. Daneben hat er praktische Erfahrung in der historisch-politischen Bildung und Öffentlichkeitsarbeit in NS-Gedenkstätten sowie bei der Ausstellungskonzeption im Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster.
Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Aufarbeitung, der Verwaltungsgeschichte des 20. Jahrhunderts und Erinnerungskulturen.