Nahrungsmangel, Teuerung und Hunger stellten kontinuierlich wiederkehrende Bedrohungen für breite Bevölkerungsschichten dar. Bis zum 19. Jahrhundert folgte ein drastischer Anstieg der Lebensmittelpreise oft – etwa in den Jahren 1770/72, 1816/17 und 1846/47 – auf witterungsbedingte Missernten und ließ die Sorge um das „tägliche Brot” anwachsen. Zudem gehörten Hunger, Entbehrung und Not zu regelmäßigen Begleit- und Folgeerscheinungen von Kriegen.
Während Hungerkrisen in der klassischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte meist mit quantitativen Methoden und im Hinblick auf Kausalitätsmodelle erforscht wurden, haben jüngere kulturgeschichtliche Ansätze weitere Perspektiven eröffnet: Von Seiten der umweltgeschichtlichen Hungerforschung wird das Wechselverhältnis von naturaler Umwelt und menschlichem Handeln neu beleuchtet. Alltags- und kommunikationshistorische Zugriffe heben die Frage nach Wahrnehmungsmustern und Bewältigungsstrategien sowie nach der räumlichen Dimension und damit der „Regionalität” des Phänomens hervor.
Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich der Themenschwerpunkt mit Phasen des Nahrungsmangels in Westfalen, aber auch vergleichend mit anderen Regionen. Gefragt wird nach regionalen Spezifika von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, nach den verschiedenen Medien der Verarbeitung von Hunger- und Noterfahrungen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Beschäftigung mit Unruhen und Aufständen im Kontext von Teuerungskrisen. Solche Formen von kollektivem Protest, die sich gegen die vermeintlichen Profiteure der Not und gegen die Obrigkeiten richteten, begleiteten viele Krisen. Sie verweisen auf populäre Gerechtigkeitsvorstellungen und Feindbilder, auf Zuschreibungsprozesse hinsichtlich der Ursachen von Hunger und Teuerung sowie auf zusätzliche gesellschaftliche Konfliktbereiche.
Weitere Beiträge behandeln u.a. die grundherrlichen Widerstände gegen die absolutistische Wirtschaftslenkung in der Grafschaft Mark im 18. Jahrhundert, frühe antisemitische Texte des späteren katholischen Sozialpolitikers Franz Hitze und die Initiativen zur Bodenreform, bäuerlichen Neuansiedlung und „inneren Kolonisation” auf adeligem Großgrundbesitz in Westfalen nach 1947. Wie gewohnt runden Berichte, Zeitschriftenschau und Buchbesprechungen den Jahresband 2021 ab.
Inhaltsverzeichnis
Michael Hecht
Hunger, Nahrungsmangel und Protest in regionaler Perspektive – zur Einführung
S. 1–16
Lars Behrisch
Hungerkrise und Statistik im späten 18. Jahrhundert: Lippe und Bayern im Vergleich
S. 17–46
Sebastian Schröder
Hunger verwalten in Zeiten der Krise. Herrschaftliche Praktiken im Hochstift Osnabrück und in der Grafschaft Ravensberg (1770–1773)
S. 47–72
Lena Kaiser-Kulins
Von Schleichhandel, Unterschleif und Contrebande – Schmuggel und illegaler Getreidehandel während der Hungerkrise 1770–1773
S. 73–86
Jennifer Staar
Die Entstehung der Wöchentlichen Osnabrückischen Anzeigen vor dem Hintergrund der Versorgungskrise nach dem Siebenjährigen Krieg
S. 87–104
Ansgar Schanbacher
Kleine Schritte. Praktiken des Umgangs mit Nahrungskrisen in Osnabrück im 18. und 19. Jahrhundert
S. 105–122
Wolfgang Bender
„August ohne Feuer, macht das Brot teuer”. Die Hungerkrise in Lippe 1816/17 und ihre Bewältigung
S. 123–136
Stefan Klötz
Numismatische Zeugnisse für Hunger und Teuerung in Westfalen (spätes 17. bis Mitte 20. Jahrhundert). Mit besonderer Berücksichtigung einer Teuerungsmedaille von 1847
S. 137–172
Daniel Schmidt
Hunger an der Heimatfront. Das nördliche Ruhrgebiet im Ersten Weltkrieg zwischen Aufbegehren und Resignation
S. 173–192
Christina Riese
Hunger als Katalysator der Institutionalisierungsprozesse in der Wohlfahrtspflege. Die Kinderunterbringung auf dem Land durch den Diözesancaritasverband Münster 1916–1919
S. 193–208
Maximilian Buschmann
Die Regierung des Hungerstreiks. Protest, Gefängnis und Psychiatrie in Deutschland, 1913–1934
S. 209–224
Nicolai Hannig
Protest – Gewalt – Umwelt. Hungerrevolten in der britischen Besatzungszone (1945–1948)
S. 225–252
Weitere Beiträge
Gerhard E. Sollbach
Untertanenwiderstand gegen den landesherrlichen Mühlenbann in der Grafschaft Mark während der Regierungszeit König Friedrich Wilhelms I.
S. 253–272
Wilfried Reininghaus
Hypothekenbücher – eine kaum bekannte Quelle zur westfälischen Geschichte des 18. Jahrhunderts
S. 273–294
Olaf Blaschke
Franz Hitze – Der Sozialreformer als Repräsentant des katholischen Antisemitismus
S. 295–322
Thomas Hacker
Rekonstruktion (fast) vergessener Biographien. Borkener Bürgermeister zwischen 1933 und 1945
S. 323–344
Thomas Spohn
Bodenreform und Bauernsiedlung in Westfalen 1947 bis 1962
S. 345–442
Tagungsbericht
Christian Rau
„Varianten des Wandels. Neue Perspektiven auf die Region in der jüngsten Zeitgeschichte 1970–2020”, Münster (digital), 17./18. März 2021
S. 443–448
Jahresberichte 2020
Kathrin Nolte
LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte
S. 449–459
Burkhard Beyer / Florian Steinfals
Historische Kommission für Westfalen
S. 460–464
Vera Brieske
Altertumskommission für Westfalen
S. 465–469
Christiane Cantauw
Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen
S. 470–474
Rudolf Grothues
Geographische Kommission für Westfalen
S. 475–478
Markus Denkler
Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens
S. 479–480
Walter Gödden
LWL-Literaturkommission für Westfalen
S. 481–488
Zeitschriftenschau
Klaus Schultze
Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2020
S. 489–514
Buchbesprechungen
Verfassung, Politik und Verwaltung
Johannes Keders (Hrsg.)
200 Jahre Recht auf Recht. Oberlandesgericht Hamm/das.besondere
200 Jahre Recht auf Recht. Oberlandesgericht Hamm/ins.besondere
Zusammen besprochen von Sebastian Felz
S. 515–518
Philipp Lenser / Jan Stalder / Knut Langewand
Entscheidungskulturen um 1900
Besprochen von Peter Burg
S. 518–520
Anna Rothfuss
Korruption im Kaiserreich. Debatten und Skandale zwischen 1871 und 1914
Besprochen von Thomas Küster
S. 520–523
Manfred Josef Thaler
Die Domkapitel der Reichskirche vom Wiener Konkordat bis zur Säkularisation (1448–1803). Grundzüge ihrer Verfassung im Vergleich
Besprochen von Jörg Wunschhofer
S. 523–525
Renate Wieland
Protestantischer König im Heiligen Reich. Brandenburg-preußische Reichs- und Konfessionspolitik im frühen 18. Jahrhundert
Besprochen von Peter Burg
S. 526–528
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Uwe Balder
Kleidung zwischen Konjunktur und Krise. Eine Branchengeschichte des deutschen Textileinzelhandels 1914 bis 1961
Besprochen von Wilfried Reininghaus
S. 528–531
Frank Becker / Daniel Schmidt (Hrsg.)
Industrielle Arbeitswelt und Nationalsozialismus. Der Betrieb als Laboratorium der „Volksgemeinschaft” 1920–1960
Besprochen von Ulrich Heinemann
S. 531–533
Achim Bednorz / Walter Buschmann
Der Pott. Industriekultur im Ruhrgebiet
Besprochen von Thomas Parent
S. 533–536
Nancy Bodden
Business as usual? Die Dortmunder Brauindustrie, der Flaschenbierboom und die Nachfragemacht des Handels 1950 bis 1980
Besprochen von Thomas Küster
S. 536–539
Rudolf Holbach / Stephan Selzer (Hrsg.)
Alles im Fluss. Menschen, Waren, Häfen auf den Wasserwegen vom Rhein bis zur Weichsel
Besprochen von Wilfried Reininghaus
S. 539–540
Jonas Hübner
Gemein und ungleich. Ländliches Gemeingut und ständische Gesellschaft in einem frühneuzeitlichen Markenverband
Besprochen von Sebastian Schröder
S. 540–542
Wilfried Reininghaus
Der Arbeiteraufstand im Ruhrgebiet 1920
Besprochen von Klaus Wisotzky
S. 542–545
Thomas Schürmann
Anthrazit. Ibbenbürener Bergbaukultur im Spiegel lebensgeschichtlichen Erzählens
Besprochen von Klaus Wisotzky
S. 545–547
Teil- und Nachbarregionen
Heide Barmeyer / Hermann Niebuhr / Michael Zelle (Hrsg.)
Lippische Geschichte
Besprochen von Bärbel Sunderbrink
S. 548–551
Kai Bosecker / Christof Spannhoff
Brenninkmeyer, Langemeyer, Tassemeier. Die Hof- und Familiennamen auf -meier im Tecklenburger Land
Besprochen von Friedel Helga Roolfs
S. 551–554
Albrecht Brendler
Auf dem Weg zum Territorium. Verwaltungsgefüge und Amtsträger der Grafschaft Berg 1225–1380
Manuel Hagemann
Herrschaft und Dienst. Territoriale Amtsträger unter Adolf II. von Kleve (1394–1448)
Zusammen besprochen von Wilfried Reininghaus
S. 554–557
Ernst Albrecht Friedrich Culemann
Die Rittergüter des Fürstentums Minden
Besprochen von Wilfried Reininghaus
S. 557
Sebastian Schröder
Tecklenburg um 1750. „Geographia Tecklenburgensis” und „Bereisungs-Protocollum” des preußischen Kriegs- und Domänenrats Ernst Albrecht Friedrich Culemann
Besprochen von Peter Burg
S. 558–560
Stadt- und Ortsgeschichte
Johannes Altenberend / Burkhard Beyer (Hrsg.)
Akzisestädte im preußischen Westfalen. Die Stadtrechtsverleihungen von 1719 und die Steuerpolitik König Friedrich Wilhelms I. Beiträge der Tagung am 23. März 2019 in Bielefeld
Besprochen von Pauline Puppel
S. 560–562
Detlef Grothmann / Evelyn Richter (Hrsg.)
Geseke. Geschichte einer westfälischen Stadt
Besprochen von Horst Conrad
S. 562–564
Jan Matthias Hoffrogge
Der „Wiedertäufermythos”. Münsters umstrittener Erinnerungsort
Besprochen von Astrid von Schlachta
S. 564–566
Rudolf Holbach / Henning Steinführer (Hrsg.)
Hansestädte und Landesherrschaft
Besprochen von Wilfried Reininghaus
S. 566–567
Kay Peter Jankrift
Im Angesicht der „Pestilenz”. Seuchen in westfälischen und rheinischen Städten (1349–1600)
Besprochen von Wilfried Reininghaus
S. 567–568
Stefan Pätzold
Bochum. Kleine Stadtgeschichte
Jochen Rath
Bielefeld. Eine Stadtgeschichte
Zusammen besprochen von Thomas Küster
S. 569–572
Rüdiger Robert
Unterm Hakenkreuz. Entstehung und Anfänge des Heimathauses Münsterland im katholischen Telgte
Besprochen von Bernd Weber
S. 572–576
Biographien
Jörg Kirschstein
Auguste Victoria. Porträt einer Kaiserin
Randy Fink
Auguste Victoria. Die letzte deutsche Kaiserin
Zusammen besprochen von Thomas Parent
S. 576–585
Jörn Ipsen
Das Reformwerk Johann Carl Bertram Stüves. Bürgermeister und Deputierter der Stadt Osnabrück – Innenminister des Königreichs Hannover
Besprochen von Peter Burg
S. 585–588
Josef Meyer zu Schlochtern / Johannes W. Vutz (Hrsg.)
Lorenz Jaeger. Ein Erzbischof in der Zeit des Nationalsozialismus
Besprochen von Bernd Weber
S. 588–594
Norbert Ortgies
Zwischen Bolschewismus und Bergpredigt. Ludwig Bitter (1908–1942)
Besprochen von Klaas-Hinrich Ehlers
S. 594–595
Josephine von Weyhe
Franz Graf von Galen (1879–1961). Ein „Miles Christianus” im Spannungsfeld zwischen Katholizismus, Adel und Nation
Besprochen von Horst Conrad
S. 595–598
Autorinnen und Autoren
S. 599