Zwei Aspekte staatlicher Expansion sind in den letzten Jahren als zentrale Merkmale des 19. Jahrhunderts herausgestellt worden: einerseits die Durchstaatlichung verschiedener gesellschaftlicher Sektoren, andererseits das Vorrücken des Staates auch in periphere Gebiete, also das Durchdringen des gesamten Territoriums mit staatlichen Gestaltungsansprüchen. Entgegen älterer Ansätze, welche die schrittweise und erfolgreiche Etablierung des modernen (National-)Staats mit seinem fest umrissenen Territorium, einer definierten Bevölkerung sowie einem durch einen Verwaltungsapparat verbürgten Gewaltmonopol eher voraussetzten als analysierten, gehen die neueren, oftmals praxisorientierten Untersuchungen von einem stark fragmentierten und diskontinuierlichen Expansionsprozess aus, der dennoch maßgebliche Auswirkungen auf gesellschaftliche Strukturen, Verwaltungspraktiken und Kommunikationsprozesse hatte. Staatlichkeit im 20. Jahrhundert wird demgegenüber noch immer stärker von der Makroebene her gedacht. Das trifft auch auf die regionalgeschichtliche Forschung zu, die zwar neue Ansätze erprobt, aber weiterhin häufig nach der Repräsentation des Großen im Kleinen sucht, statt die lokalen und regionalen Praktiken in den Mittelpunkt zu rücken.
In Band 72 der Westfälischen Forschungen werden die Perspektiven auf das 19. und 20. Jahrhundert für eine zeitgemäße Geschichte des Regierens in der Region zusammengeführt. Der Band beschäftigt sich mit bestimmten Verwaltungspraktiken im Alltag und in besonderen Umbruchsituationen, die zu einer Transformation des Regierens beitrugen. Klassische Felder der Verwaltungsgeschichte werden dabei ebenso berührt wie die Geschichte von Struktur-, Presse- und Bildungspolitik, Protestgeschehen oder des Wandels von Partizipationsformen.
Weitere Beiträge behandeln Überlieferungsfragen zur Geschichte der Stadt Schwerte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, die Reisen und die Biographie des Afrikaforschers Ferdinand Werne, die südwestfälische Kettenproduktion und ihren spezifischen Entwicklungspfad in der Industrialisierung, die Landtagswahlen im Raum Herne vor dem Ersten Weltkrieg sowie den Einsatz für die Finanzierung von Einrichtungen für Opfer sexualisierter Gewalt in den 1980er und 1990er Jahren und für Bleiberechte von Roma in Münster um 2010. Forschungsberichte, Zeitschriftenschau und Buchbesprechungen runden den Jahresband 2022 ab.
Inhaltsverzeichnis
Anette Schlimm
Einleitung: Regieren in der Region. Staatlichkeit, Gesellschaft und Regionalität im 19. und 20. Jahrhundert
S. 1–14
Sebastian Schröder
Wer regiert wen? Landesherrlicher Einfluss und lokale Kräfte in den ravensbergischen Akzisestädten des 18. Jahrhunderts
S. 15–30
Katrin Minner
„... wieder zur Kunde und zum öffentlichen wohlgeordneten Gewahrsam ... hervorzuziehen”? Die Neuordnung des westfälischen Archivwesens als regionale Regierungspraktik
S. 31–74
Felix Gräfenberg
Preußens Werk und Vinckes Beitrag. Chausseebau in Westfalen als Gegenstand politischen Entscheidens, ca. 1816–1840er Jahre
S. 75–96
Martin Dröge
Staatlich gesteuerte Presse als Mittel des Regierungshandelns im ländlichen Raum. Eine explorative Textdatenanalyse der Amtspresse Preußens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
S. 97–118
Moritz Herzog-Stamm
Ordnen durch Fortbildung. Die Westfälische Verwaltungsakademie (1923–1934)
S. 119–140
Kerstin Schulte
„Learning by doing”. Zivile Internierungslager in Westfalen als Experimentierfeld britischer Besatzungspraktiken
S. 141–158
Martin Zückert
Strukturpolitik im Staatssozialismus. Ansätze und Grenzen regionaler Förderpolitik in den slowakischen Bergregionen (1948–1969)
S. 159–176
Stefan Goch
Die Rezeption der Umbrüche im Ruhrgebiet im NRW-Landtag
S. 177–202
Karl Siebengartner
Punks und Polizei. Staatliche Reaktionen auf rebellisches Verhalten in Westdeutschland 1980 bis 1985
S. 203–222
Weitere Beiträge
Wilfried Reininghaus
Agenda für eine Regestensammlung zur Geschichte von Schwerte und dem mittleren Ruhrtal (775–1618). Retrospektive Ergänzungsüberlieferung zur kommunalen Geschichte
S. 223–236
Werner Koppe
Das schwierige Leben des Afrikaforschers Ferdinand Werne. Umfangreiche Reisetätigkeit und Aufenthalt in den Landeskranken-/Landarmenhäusern Geseke und Benninghausen in der Mitte des 19. Jahrhunderts
S. 237–260
Hiram Kümper / Daniele Toro
Stabile Bindungen. Die südwestfälische Kettenproduktion als eigenwilliger Weg der Industrialisierung
S. 261–292
Heinz-Joachim Barsickow
Landtagswahlen im Raum Herne vor dem Ersten Weltkrieg. Politische Willensbildung in der Industrieprovinz
S. 293–346
Ruth Pope
‚Zartbitter’ und die feministische Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt an Kindern in den 1980er und 1990er Jahren
S. 347–366
Tim Zumloh
„Rettet Eure Nachbarn!” – Bleiberechtskämpfe für und von Roma aus dem Kosovo in der Münsteraner „Aktion 302” (2009–2011)
S. 367–386
Forschungsbericht
Burkhard Beyer
Aktuelle Forschungen zur jüdischen Geschichte in Westfalen. Tendenzen und Erträge
S. 387–398
Werkstattbericht
Thomas Hacker
Per Mausklick in Borkens Vergangenheit. Westfälisches Stadtarchiv beteiligt sich am Urkundenportal „Monasterium”
S. 399–416
Jahresberichte 2021
Kathrin Nolte
LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte
S. 417–427
Burkhard Beyer / Felix Gräfenberg
Historische Kommission für Westfalen
S. 428–433
Vera Brieske
Altertumskommission für Westfalen
S. 434–439
Christiane Cantauw
Volkskundliche Kommission für Westfalen
S. 440–444
Rudolf Grothues
Geographische Kommission für Westfalen
S. 445–449
Markus Denkler
Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens
S. 450–453
Walter Gödden
LWL-Literaturkommission für Westfalen
S. 454–462
Zeitschriftenschau
Klaus Schultze
Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2021
S. 463–488
Buchbesprechungen
Politische Konflikte und Strukturen
Frank Bischoff / Guido Hitze / Wilfried Reininghaus (Hrsg.)
Aufbruch in die Demokratie. Die Revolution 1918/19 im Rheinland und in Westfalen
Besprochen von Alexander Gallus
S. 489–492
Sebastian Bischoff / Barbara Frey / Andreas Neuwöhner (Hrsg.)
Koloniale Welten in Westfalen
Besprochen von Claudia Kemper
S. 492–498
Frank Kawelovski / Sabine Mecking
Polizei im Wandel. 70 Jahre Polizeiarbeit in Nordrhein-Westfalen
Besprochen von Sebastian Felz
S. 498–500
Wirtschaftsgeschichte
Karl-Peter Ellerbrock
Aschendorff. Geschichte eines deutschen Medienhauses 1720–2020
Besprochen von Corinna Norrick-Rühl
S. 500–502
Dörte Eriskat
Baumwollhandel und Barchentproduktion im Westen des Reiches
Besprochen von Wilfried Reininghaus
S. 503
Jennifer Garner / Meinhard Weber / Manuel Zeiler (Hrsg.)
23. Internationaler Bergbau- & Montanhistorik-Workshop – Tagungsband
Besprochen von Wilfried Reininghaus
S. 503–505
Soziale Gruppen
Horst Conrad
Der lange Abschied von der Macht. Adel in Westfalen 1800–1970
Besprochen von Hans-Werner Langbrandtner
S. 505–510
Matthias Frese / Julia Paulus (Hrsg.)
Willkommenskulturen? Re-Aktionen auf Flucht und Vertreibung in der Aufnahmegesellschaft der Bundesrepublik
Besprochen von Volker Tschuschke
S. 510–512
Maren-Sophie Fünderich
Wohnen im Kaiserreich. Einrichtungsstil und Möbeldesign im Kontext bürgerlicher Selbstrepräsentation
Besprochen von Thomas Küster
S. 512–514
Heinrich Theodor Grütter / Magdalena Drexl / Axel Heimsoth / Reinhild Stephan-Maaser (Hrsg.)
Eine Klasse für sich. Adel an Rhein und Ruhr
Besprochen von Wilhelm Ribhegge
S. 514–516
Norbert Reimann
Die Freiherren von und zu Brenken. 800 Jahre Familiengeschichte im Paderborner Land
Besprochen von Gerd Dethlefs
S. 517–518
Kirche und Konfessionen
Ulrich Andermann / Fred Kaspar
Leben im Reichsstift Herford. Stiftsfrauen, Priester, Vikare und Bürger
Besprochen von Horst Conrad
S. 519–521
Bernadette Burchard
Kirchenschatz und Schicksal im Mittelalter. Zum Verhältnis von Materialität, Schatzimaginationen und -praktiken am Beispiel des Kathedralschatzes von Münster
Besprochen von Roland Pieper
S. 521–523
Kurt Flasch
Katholische Wegbereiter des Nationalsozialismus. Michael Schmaus, Joseph Lortz, Josef Pieper
Besprochen von Sebastian Felz
S. 523–525
Werner Freitag / Wilfried Reininghaus (Hrsg.)
Beiträge zur Geschichte der Reformation in Westfalen (Band 1 und 2)
Zusammen besprochen von Michael Hirschfeld
S. 526–528
Anna Krabbe
Inseln in der evangelischen Stadt? Religiöse Gemeinschaften in Herford und Soest 1521–1609
Besprochen von Ulrich Andermann
S. 528–530
Kunst und Wissenschaft
Jens Adamski / Stefan Berger / Helmut Maier / Daniel Schmidt (Hrsg.)
Forschung, Kultur und Bildung. Wissenschaft im Ruhrgebiet zwischen Hochindustrialisierung und Wissensgesellschaft
Besprochen von Klaus Wisotzky
S. 530–534
Martina Hartmann / Horst Zimmerhackl / Anna Claudia Nierhoff (Hrsg.)
Quellenforschung im 21. Jahrhundert. Vorträge der Veranstaltungen zum 200-jährigen Bestehen der MGH vom 27. bis 29. Juni 2019
Besprochen von Wilfried Reininghaus
S. 535–536
Wilfried Reininghaus
Die Historische Kommission für Westfalen 1896 bis 2021. Eine regionale Wissenschaftsgeschichte
Besprochen von Dietmar von Reeken
S. 536–539
Stephanie Schoger
Gerard ter Borch und der Westfälische Friedenskongress 1648 in Münster
Besprochen von Gerd Dethlefs
S. 539–541
Orts- und Städtegeschichte
Claudia Maria Korsmeier
Die Ortsnamen des Kreises Steinfurt
Besprochen von Christof Spannhoff
S. 541–545
Martin Kroker / Sven Spiong (Hrsg.)
Kurien, Klöster und Kaufmannshäuser. 25 Jahre Stadtarchäologie Paderborn
Besprochen von Julia Ricken
S. 546–548
Alfred Wesselmann (Hrsg.)
Nach der Stunde Null. Gründung und Neugründung der politischen Parteien in Lengerich nach dem Zweiten Weltkrieg
Besprochen von Bernd Weber
S. 548–552
Heinz Wiemann / Annette Fischer (Hrsg.)
Geschichte der Dörfer Schlangen, Kohlstädt, Oesterholz und Haustenbeck
Besprochen von Thomas Küster
S. 552–554
Biographien
Manfred Beine / Marion Kant / Ralf Othengrafen (Hrsg.)
Ein westfälischer Jude in der preußischen Armee. Isaac Löwenstein aus Rietberg-Neuenkirchen und sein Tagebuch
Besprochen von Horst Conrad
S. 555–556
Michael Bieber
Anton Eickhoff – vom Nazi zum Chefredakteur der WN. Stationen eines Journalisten 1931 bis 1969
Besprochen von Olaf Blaschke
S. 556–558
Sören Groß
Friederike Wieking. Fürsorgerin, Polizeiführerin und KZ-Leiterin
Besprochen von Bernd Weber
S. 558–562
Joachim Scholtyseck
Reinhard Mohn – Ein Jahrhundertunternehmer
Besprochen von Christoph Lorke
S. 562–565
Susanne Tauss / Ulrich Winzer (Hrsg.)
„Es hat also jede Sache ihren Gesichtspunct ...”. Neue Blicke auf Justus Möser (1720–1794). Beiträge der wissenschaftlichen Tagung vom 14. bis 16. März 2019
Besprochen von Horst Conrad
S. 565–567
Thomas Vogtherr (Hrsg.)
In des Teufels Küche. Autobiografische Aufzeichnungen von Georg Schnath aus den Jahren 1945–1948
Besprochen von Horst Conrad
S. 567–569
Nachbarregionen
Sabine Graf / Gudrun Fiedler / Michael Hermann (Hrsg.)
75 Jahre Niedersachsen. Einblicke in seine Geschichte anhand von 75 Dokumenten
Besprochen von Joana Gelhart / Christoph Lorke / Tim Zumloh
S. 569–572
Sebastian Hösch
Heimattage. Methoden der Beheimatung in Hessen
Besprochen von Martin Schlemmer
S. 573–577
Autorinnen und Autoren
S. 579–580
Themenschwerpunkte der Westfälischen Forschungen 1989–2023
S. 581–583