Die Glaubwürdigkeit von Argumenten im religiösen Bereich wird häufig auf persönliche Authentizität zurückgeführt. Damit erhalten sowohl die unmittelbare Erfahrung als auch die unvertretbare, subjektive Individualität der einzelnen Glaubenden eine religiöse Normativität. Diese Position trifft auf ein christliches Glaubensverständnis, in dem der Glaube auf einer allgemeinen, geschichtlich ergangenen Offenbarung und auf deren kirchlicher Überlieferung beruht.
Wenn man den Glauben auf ein in textlicher Gestalt überliefertes Zeugnis gründen möchte, ist der Graben der Geschichte zu überbrücken. Aber auch der Bezug auf Erfahrung ist problematisch, weil er unweigerlich dem Verdacht einer Subjektivität ausgesetzt ist, die den Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit nur schwierig einlösen kann.
Die mit diesen Überlegungen angedeuteten Spannungen zwischen geschichtlicher Autorität und Erfahrung, zwischen Text und Ereignis existieren nicht nur im Christentum, sondern auch in anderen Religionen. So erörtern Beiträge dieses Bandes diese Fragen zunächst in katholisch-theologischer Perspektive. Die weiteren Beiträge bilden ein ökumenisches und interreligiöses Gespräch zwischen katholischen und evangelischen, jüdischen, islamischen und buddhistischen Ansätzen zum Thema.
Inhaltsverzeichnis
I. Normativität im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Erfahrung: Erkundungen im Raum katholischer Theologie
Thomas Böhm
Auf der Suche nach Kriterien für Normativität. Eine Auseinandersetzung mit der Deutung des Konzils von Nizäa bei Alois Grillmeier
S. 3–20
Bernhard Knorn
Die Theologie und ihre Quellen. Zur Rezeptionsgeschichte der Loci theologici Melchor Canos
S. 21–39
Hans-Joachim Höhn
Die Authentizität des Glaubens. Relevanz und Kriterien des sensus fidei
S. 40–57
Saskia Wendel
Glaube – eine Konstellation zwischen Erfahrung und Überlieferung
S. 58–74
II. Die Autorität religiöser Erfahrung im Verhältnis zur Glaubenslehre: Ökumenische und interreligiöse Dialoge
Peter Zimmerling
Glaubensquellen und die Evidenz religiöser Erfahrung aus evangelischer Sicht
S. 75–93
Klaus Vechtel
Glaubensquellen und die Evidenz religiöser Erfahrung. Eine Verhältnisbestimmung aus der Perspektive der ignatianischen Spiritualität
S. 94–112
Susanne Talabardon
Der Zaddik als lebendige Tora im chassidischen Judentum
S. 113–131
Dirk Ansorge
Eine „lebendige Tora“ im Christentum? Die vielfältigen Quellen des Glaubens in katholischem Verständnis
S. 132–148
Ömer Özsoy
Die Koranexegese im Spannungsfeld zwischen Kompositionalität und Kontextualität. Text, Geschichte und Erfahrung
S. 149–162
Tobias Specker
Kontext und Ereignis. Eine Auseinandersetzung mit der koranhermeneutischen Position von Ömer Özsoy
S. 163–187
Karsten Schmidt
Der Erfahrungsbezug buddhistischer Lehraussagen im Spiegel der europäischen Verstehensbedingungen
S. 188–207
Alexander Löffler
Das Paradox leben. Zenerfahrung und christlicher Glaube
S. 208–230
Autorinnen und Autoren
S. 231–233
Personenregister
S. 234–238